jueves, 2 de julio de 2020

DAS SCHÖNSTE ALLER LIEDER





 „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein”
 (Lied der Lieder 2,16)

 von Francesc Ramis Darder
bibliayoriente.blogspot.com



Jedes Mal, wenn wir das Hohelied lesen, erleben wir, wie die Leidenschaft zwischen zwei Liebenden im Frühling entbrennt. Die Rabbiner hatten Recht, als sie sagten: „Wenn Gott Israel nicht das Gesetz gegeben hätte, hätte das Hohelied genügt, um das Universum zu beherrschen". Und das ist wahr, denn der wahre Fortschritt der Menschheitsgeschichte liegt in unserer Liebesfähigkeit. Obwohl das Wort „Gott“ nicht ausdrücklich im Hohelied erwähnt wird, ist es dennoch auf jeder Seite vorhanden, denn wie die Heilige Schrift sagt: „Gott ist Liebe“ (1 Johannes 4,8).

1. Einleitende Bemerkungen

Die Überschrift des Buches gibt den Titel an, der auf Hebräisch „Das Schönste aller Lieder" bedeutet sowie den Namen der Figur, der nach der Tradition die Urheberschaft zugeschrieben wird, nämlich „Salomon", König von Israel. Das Buch wurde in hebräischer Sprache verfasst und gilt als eines der fünf Megillot: Rut, Hohelied, Klagelieder, Kohelet und Ester. Schon sehr bald begann das Volk, es mit Freude zu rezitieren und am Passahfest zu verkünden. Die alten Versionen der Bibel, die griechische Septuaginta (zweites Jahrhundert v. Chr.), die lateinische Vulgate (viertes Jahrhundert) und die syrische Peshitta (drittes Jahrhundert) haben, wann immer möglich, die hebräischen Wörter mit größter poetischer Finesse übersetzt, um die Tiefe der Liebe auszudrücken.

Salomon wird im Titel (Lied der Lieder 1,1), in zahlreichen Versen des Gedichtes (3,9; 3,11; 8,11) sowie in Hinweisen auf den König (1,4; 1,12; 7,6) genannt. Die Erwähnung Salomons bedeutete, dass das Gedicht sowohl in der hebräischen als auch der christlichen Tradition dem weisesten aller Könige zugeschrieben wurde. Die in der Heiligen Schrift so gerühmte Weisheit des Monarchen führte dazu, dass ihm auch die Bücher der Sprüche, des Kohelet, der Weisheit und einige Psalmen attribuiert wurden (1 Offb 5,12). Nun muss man jedoch nach Meinung moderner Forscher den Ausdruck „von Salomon" im Sinne von „zu Ehren Salomos" verstehen. Aus literarischer Sicht ist der Ausdruck „von Salomon" ein Pseudonym, d.h. der Verfasser des Gedichtes war ein Bewunderer des Königs Salomon, weshalb er das Werk dem verehrten Monarchen widmete und „von Salomon" schrieb, was, wie bereits erwähnt, als „zu Ehren Salomos" zu verstehen ist.

Wie moderne Forscher festgestellt haben, trug der jüdische Weise, der das Hohelied verfasste, mündlich überlieferte Liebesgedichte aus verschiedenen Epochen zusammen. Einige waren sehr alt, wie jenes, das sich auf die Stadt Tirsá (6,4), die alte Hauptstadt des nördlichen Königreichs Israel (10. Jahrhundert v. Chr.) bezieht, während andere aus der Zeit nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft (6. Jahrhundert v. Chr.) stammen, wie die Verwendung aramäischer, griechischer oder persischer Begriffe belegen (5,13). Die hebräische Gemeinde rezitierte seit jeher Gedichte, die den Aspekt der Leidenschaft menschlicher Liebe betonten. Etwa um das 3. Jahrhundert v. Chr. sammelte ein anonymer Autor und Anhänger Salomos die Gedichte, schrieb neue und verfasste in der Stadt Jerusalem mit Kunst und Können „das schönste aller Lieder" zu Ehren des weisesten aller Monarchen.

Als die jüdischen Rabbiner um das Jahr 70 in der Synode von Jabne zusammenkamen, um die Bücher der Heiligen Schrift festzulegen, hatten sie Zweifel, ob sie das Hohelied aufgrund seiner sinnlichen Natur aufnehmen sollten. Dann ließ sich die ernste Stimme des Rabbi Akiva vernehmen. Der jüdische Weise erinnerte die unschlüssige Versammlung daran, dass niemand in Israel jemals bezweifelt hatte, dass das Hohelied ein Buch sei, „das die Hände verunreinigt"; der Ausdruck „die Hände verunreinigen“ bedeutet in der hebräischen Tradition, dass das Buch heilig ist und infolgedessen von Gott inspiriert. Die christliche Kirche, Erbin der in der Synode von Jabne getroffenen Entscheidung, zögerte nicht, das Buch in die Heilige Schrift aufzunehmen.

2. Die Schönheit sinnlicher Liebe

Unter der Intensität der Dialoge, Monologe und Selbstgespräche pulsiert die Persönlichkeit der beiden Liebenden: die der Geliebten, „Sulamith" (7,1) und ihres Geliebten, „Solomon" (3,9). Beide offenbaren ihre Leidenschaft und den Wunsch, ihre Liebe zu vollziehen. Es gibt auch eine dritte Figur, den Chor der „Töchter Jerusalems", der die heftige Leidenschaft der Liebenden anfacht. Das Hohelied enthält 49 Wörter, die an keiner anderen Stelle des hebräischen Alten Testaments auftauchen. Neben zahlreichen Aramaismen gibt es eine überraschend große Anzahl von Lehnwörtern aus dem Persischen wie „Obstgarten oder Paradies“ (4,13) und aus dem Sanskrit stammende Wörter wie „Purpur“ (3,10). Zweifellos, wie die Mehrsprachigkeit des Gedichtes belegt, schließt der Liebesrausch die gesamte Menschheit ein.

Das Liebesvokabular unterstreicht die Leidenschaft und Zärtlichkeit des Gedichts. Die Sprache zeigt, wie die Augen der Liebenden den Körper des anderen abtasten und die Nase (7,5), den Nabel (7,3), die Locken (7,6), die Füße (7,6), die Wangen (1,10), die Lippen (4,11), das Gesicht (2,14), die Eingeweide (5,14), die Augen (1,15), die Hände (2,6), den Hals (1,10), die Brüste (7,8), die Zähne (4,2) oder die Beine (5,15) betrachten. Die Sprache beschränkt sich nicht auf die beschreibende Ebene, sondern beschwört das größte Verlangen eines Liebenden nach dem anderen. Die Bewunderung ihrer Körper entfacht die Leidenschaft der Liebenden, „bring mich in deine Gemächer“ (1,4), sie begehren sich, „mein Geliebter streckt seine Hand durch den Türspalt" (5,4), sie umarmen sich, „mit der Rechten umarmt er mich"(2,6), sie lieben sich, „du hast mir mein Herz gestohlen"(4,9), sie küssen sich, „lass ihn mich mit Küssen überschütten, mit seinen Küssen!"(1,2), sie sprudeln über vor „Liebesfieber" (2,5), sie bewundern sich gegenseitig „wie schön und faszinierend du bist, meine Freundin, wie bezaubernd!" (7,7), sie verzehren sich vor Liebe, „ich gehöre meinem Geliebten und er begehrt mich” (7,11).

Dieser Rahmen der Liebesleidenschaft ist angefüllt mit üppiger Flora; Holz aus dem Libanon (3,9), Zedern und Sadebäume (1,17), ein Apfelbaum (2,3), ein Feigenbaum (2,13), Weinberge (7,13), Lilien (4,5 und 2,1) oder Alraunen (7,14). Auch die Vielfalt der Tiere überrascht. Gazellen und Hirschkühe (2,7), eine Turteltaube (2,12), eine Taube (2,14) oder Löwen und Panther (4,8). Zweifellos beschwört die Szene der Liebe das „sehr gute" Aussehen des irdischen Paradieses herauf (Gen 1,31); den Garten, in dem sich die erste Liebesleidenschaft, von der die Bibel erzählt, vollzieht, die Geschichte von Adam und Eva. Die Erwähnung der Flora und Fauna beschränkt sich nicht auf die Beschreibung der Umgebung, in der die Liebe genossen wird, sondern verstärkt den sinnlichen Aspekt der Liebesleidenschaft, welche die beiden Liebenden so stark fesselt.

Das Buch unterstreicht die Bedeutung der körperlichen Sinne. Der Geruchssinn bedeutet, Düfte wie „Myrrhe und Weihrauch“ (3,6) oder „Safran und Zimt“ (4,14) genießen zu können, die der Dichter in jedem Vers des Hoheliedes heraufbeschwört. Der Geschmackssinn wird in der Metapher des Honigs (4,11) oder des aromatischen Weins (7,3) präsent; die Süße des Weins und des Honigs verführt die Liebenden zum Essen und Trinken, Symbole der Umarmung der Liebe. Der Tastsinn schleicht sich unter dem Deckmantel der Zärtlichkeit des Kusses (1,2) und der leidenschaftlichen Liebe in den Gemächern des Königs ein (3,4). Der Gehörsinn kommt durch den respektvollen und leidenschaftlichen Austausch der Liebenden zum Ausdruck: „deine Stimme ist süß“ (2,14) „öffne mir […], mein Haupt ist feucht vom Tau und mein Haar vom Nachttau”(5,2).

Der Sehsinn erfreut sich an der Zärtlichkeit und Leidenschaft, mit der jeder der Liebenden den Körper des anderen betrachtet. Die Geliebte wird verglichen mit einem üppigen Garten voller Früchte und Aromen, „einem Garten der Granatapfelbäume […] und balsamischer Gerüche“ (4,13). Inmitten des Gartens der Geliebten sprudelt eine „Quelle […] lebendigen Wassers“ (4,15), während der Geliebte den Garten betritt, um dessen Früchte zu sammeln und sich mit seiner Geliebten „an der Liebe zu berauschen" (5,1).

Als Kontrapunkt zur Leidenschaft scheint das Gedicht einige vorsorgliche Maßnahmen gegen den Wahnsinn der Liebe zu unterbreiten. So erscheint Sulamith als ein „eingezäunter Garten" (4,12), „ein versiegelter Brunnen" (4,12), „eine Mauer“ oder „eine Tür" (8,9), während sich der König, das Echo des Geliebten, hinter „unserer Mauer" (2,9) steht. Die Hindernisse sind eine Metapher für die Macht, mit der leidenschaftliche Liebe die menschliche Einsicht verblendet (5,8); vor allem aber bezeugen sie, und das ist das Wesentlichste, dass keine Widrigkeit die „göttliche Flamme" der Leidenschaft verhindern kann, da, wie das Gedicht besagt: „Liebe so mächtig ist wie der Tod" (8,6).

Das Alte Testament zeigt Frauen oft in einer unterwürfigen Rolle, die typisch für die patriarchalische und Stammesgesellschaft des alten Orients war (Sprüche 31). Wie anders ist jedoch die Frau, die das Hohelied beschreibt. Sulamith pulsiert mit leidenschaftlicher Liebe; sie sagt furchtlos, dass sie „krank vor Liebe" ist (5,8). Das Gedicht beschreibt sie als frei in ihrer Wahl des Geliebten, frei in ihrer Entscheidung, frei, die Initiative zu Lieben zu ergreifen und frei zu sein für die Liebe. Das Hohelied verherrlicht die Sinnlichkeit des Körpers und die Lebendigkeit der Schönheit; die Liebenden schwimmen ungehemmt in den transparenten Wassern leidenschaftlicher Liebe.

Die Tiefgründigkeit der großen Werke der Weltliteratur liegt nicht nur in der Genauigkeit, mit der sie Ereignisse beschreiben oder persönliche Ansätze kommentieren, sondern in ihrer Fähigkeit, den Leser in die Geschichte, die sie erzählen, einzubeziehen. Als Urgedicht liegt die Größe des Hohelieds nicht nur in der Schönheit, mit der es die Leidenschaft der Liebe beschreibt, sondern auch in der Einladung, die es an die heutigen Liebenden richtet, eine gesunde Liebe voller Zärtlichkeit, Gleichheit, gegenseitigem Respekt und Leidenschaft zu genießen.

3. Die Syntax der Liebe

Im Gegensatz zur mittelalterlichen Dichtung basiert die hebräische Dichtung nicht auf Reimen, sondern auf dem, was von den Gelehrten als "Parallelismus" bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass ein Vers eine Idee vorträgt, zum Beispiel „sein Kopf ist reinstes Gold“ und der nächste Vers wiederholt diese Idee mit anderen Worten, „seine Zöpfe, Palmwedel“ (5,11); so drücken beide Verse „parallel“ das gleiche Konzept aus, in diesem Fall die Schönheit des Gesichts des Geliebten. So kann ein Vers auch ein bestimmtes Konzept unterstreichen: „deine Zähne sind wie eine Herde Mutterschafe … jeder hat seinen Zwilling“ während der folgende Vers das Gegenteil ausdrückt, „nicht einer, der alleinstehend ist“ (6,6). Indem parallel mit den Begriffen „Zwilling“ und dessen Gegenteil „alleinstehend“ gespielt wird, betont das Gedicht die Perfektion der Zähne der Geliebten.

Der Reichtum des hebräischen Parallelismus wird durch die Verwendung von Alliteration, der Wiederholung des Anfangsklanges jedes Wortes in einem Vers und durch Assonanz, der Wiederholung von Vokalen in den aufeinanderfolgenden Worten des gleichen Verses verstärkt. Obwohl beide Konzepte in einer Übersetzung nicht einfach zu erkennen sind, können wir sie intuitiv erfassen. Etwa das Echo der Alliteration in „Komm aus dem Libanon … komm aus dem Libanon“ (4,8), während die Assonanz in dem Vers entsteht, in dem die Wiederholung des hebräischen „î“ ermöglicht, die Liebesschreie zu hören: „Ich komme in meinen Garten, …Braut; Ich pflücke meine Myrrhe und meinen Balsam; esse meine Wabe samt dem Honig“(5,1).

Die Sinnlichkeit, mit der der Dichter die Körper der Liebenden beschreibt, ist wunderschön. Im Falle des Geliebten verwendet das Hohelied Begriffe aus der Botanik: ein „Beutel mit Myrrhe" (1,13), „Hennablütentraube" (1,14), „Apfelbaum unter Waldbäumen“ (2,3), Zöpfe wie „Palmwedel“ (5,11). Der Geliebte ist zweifellos „erlesen wie Zedern“, eine Metapher für seine Galanterie (5,15). Der Dichter beschreibt auch die Schlankheit des Geliebten anhand tierischer Analogien wie „junger Hirsch“ (2,9) oder verliebten Hirten: „Mein Geliebter ging in seinen Garten…, um in den Gartengründen zu weiden“ (6,2).

Besonders ausdrucksstark ist der Dichter, wenn er den Körper der Geliebten beschreibt: Ihr Haar gleicht „einer Herde Ziegen" (4,1), ihre Schläfen „dem Riss eines Granatapfels" (4,3) und ihre „Wangen sind wie Balsambeete“(5,13), ihre Augen „sind zwei Tauben" (1,15) und die „Teiche zu Heschbon" (7,5), ihre Lippen sind „Lilien" (5,13) und „rote Bänder" (4,3), ihr Atem „Apfelduft" (7,9), ihr Hals „ein Elfenbeinturm" (7,5), ihre Brüste „wie zwei Kitzlein" (7,4), „Trauben" (7,8) oder „Türme“ (8,10), ihr Wuchs ist dem einer „Palme" (7,8) gleich, ihr Schoss ein „rundes Becken" (7,3). Kurz gesagt, die Silhouette der Geliebten „ist wie ein Geschmeide, gefertigt von Künstlerhand" (7,2), sie ist wie „eine Blume auf den Wiesen des Scharon, eine Lilie der Täler" (2,1).

Wenn der Dichter die Körper der Liebenden beschreibt, abstrahiert er die schönsten und edelsten Aspekte der Natur, damit der Leser die Musik leidenschaftlicher Liebe hört.

Wie bereits erwähnt, sammelte ein Meister hebräischer Dichtung eine Anthologie von Liebesgedichten, um das Hohelied zu verfassen. Der Dichter sammelte jedoch nicht einfach unzusammenhängende Geschichten. Vielmehr verknüpfte er volkstümliche Gedichte und verfasste neue Verse, um auf dem Amboss der Kunst ein Gedicht zu schmieden, das die Leidenschaft der Liebe verkündete, wie sie in den Versen des Hohelieds offenbart wird.

Der Meisterdichter schuf den Titel des Buches: „Das Lied der Lieder, von Salomon“ (1,1). Dann entwarf er den „Portico“, wo sich die Geliebte nach ihrem Geliebten sehnt (1,2-4). Danach verfasste er das „Lob der Liebe“, in dem die beiden Liebenden die Kunst des Liebens ersinnen (1,5-2,7). Sofort folgt „Das Verlangen“ der Liebenden, die nicht aufhören, einander zu lieben (2,8-3,5). Nachdem sie ihr Verlangen offenbart haben, preist der Dichter „Die Wonne" der Protagonisten, die auf den Augenblick der Leidenschaft warten (3,6-5,1). Zweifellos inspiriert die Lust die „Suche“ der Liebenden nach einander (5,2-6,3) bis die liebende „Inbesitznahme“ stattfindet (6,4-8,6). Das Buch endet mit einem „Anhang“ voller Überlegungen zur Liebe (8,7-13), um mit dem Ausruf der Geliebten zu enden: „Fort, fort, mein Geliebter, der Gazelle gleich, dem jungen Hirsch, auf den Balsambergen.“(8,14).

4. Interpretation des Hoheliedes

Die alte jüdische und christliche Tradition interpretierte das Hohelied als Allegorie. Die jüdische Gemeinde sah Salomon als Repräsentation Jahwes, des Königs von Israel (Jesaja 44,6) und hinter dem Blick der Sulamith das Antlitz Israels, der geliebten Gemeinde des Herrn (Jesaja 62, 5). Der jüdische Weise Isaac Abrabanel (16. Jahrhundert) identifizierte Sulamith als die Figur der „Dame Weisheit“, wie sie im Buch der Sprüche (Sprüche 8, 9,1-6) erscheint und den König, den sie verführt, als Metapher für Israel.

 Die christliche Tradition sah seit dem Heiligen Hippolytus von Rom (3. Jahrhundert) und dem Heiligen Gregor von Nyssa (4. Jahrhundert) die Figur des Königs als Metapher für Gott oder Christus, während sie in den Augen der Geliebten die Kirche sahen. Im dritten Jahrhundert erkannte Origenes von Alexandria hinter der Größe des Königs die Hoheit Jesu und hinter der Leidenschaft der Geliebten sah er das Abbild der menschlichen Seele, die sich nach der Begegnung mit dem Herrn sehnt, dem wahren Geliebten. Diese Allegorie weiter vertiefend, sahen der heilige Ambrosius von Mailand (4. Jahrhundert) und Richard von Saint Victor (12. Jahrhundert) Maria, eine Metapher für die Kirche, hinter den Worten, die Sulamith an den Herrscher richtet, den sie als Symbol des Herrn, des Gatten der Kirche interpretierten (Offb 21,9). Bernhard von Clairvaux schrieb sechsundachtzig Predigten über das Hohelied, das er als Dialog zwischen Christus und der christlichen Seele interpretierte. Die Mystiker, die heilige Teresa von Ávila, der heilige Johannes vom Kreuz und die heilige Thérèse von Lisieux kommentierten das Lied der Lieder in ihren spirituellen Schriften.

Verschiedene Religionswissenschaftler haben das Hohelied mit den babylonischen Erzählungen der Liturgie des Adonis-Tammuz verglichen. Der für die Neujahrsfeiern typische Mythos, präsentiert den Gott Tammuz, ein Synonym für die kanaanitische Gottheit Baal und die Göttin Istar, Echo der kanaanitischen Göttin Anat, begleitet von wunderbar harmonischen Chorgesängen. Nach dem Tod von Adonis steigt Istar in die Hölle hinab, um ihn zu retten. Der Tod des Gottes und der Abstieg der Göttin in die Unterwelt öffnen die Tore für Herbst und Winter, jene Zeit, in der die Natur welkt. Wenn Istar Adonis in die irdische Welt zurückbringt, feiern die beiden Gottheiten ihr Verlöbnis, während die Natur im Frühling betrachtet, wie das Leben auf den Feldern erneut erblüht. Andere Kommentatoren haben das Hohelied als kompaktes und gut strukturiertes Drama gesehen, in dem Solomon und Sulamith ihre Leidenschaft miteinander teilen.

Unter Berücksichtigung früherer Interpretationen sehen heutige Gelehrte das Hohelied als ein Gedicht, das die leidenschaftliche Liebe eines menschlichen Paares preist. Diese Interpretation wurde schon in der Antike vertreten. Die Schriften des Rabbi Akiva (1. Jahrhundert) erwähnen das sinnliche Verständnis des Hoheliedes, das die jüdische Gemeinde hatte. Der christliche Theologe Theodor von Mopsuestia (4.-5. Jahrhundert) sah im Hohelied die leidenschaftliche Liebe der Liebenden, eine Interpretation, die der sogenannte „anonyme Jude" in seinem Kommentar (12. Jahrhundert) übernahm und die Pater Luis de León in seinen Schriften (16. Jahrhundert) weiterentwickelte. Heutzutage bildet sie zusammen mit der allegorischen Perspektive die häufigste und poetischste Interpretation des Hoheliedes, denn nur leidenschaftliche Liebe kann das menschliche Dasein verändern und beleben!


Schlussfolgerung

Die ersten Worte, welche die Bibel dem Menschen in den Mund legt, sind eine Liebeserklärung. Als Adam Eva zum ersten Mal erblickte, rief er aus: „Das ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch!"; und die Heilige Schrift fügt noch hinzu: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch." (Gen 2,23-24). Auch die fast letzten Worte der Bibel sind ein Liebeslied: „Der Heilige Geist und die Braut sagen: „Komm!" (Offb 22,17). Wenn man die Metapher weiter ausschöpft, ist die Bibel, jenes Buch, das die Geschichte der Liebe zwischen Gott und der Menschheit erzählt, eingerahmt von zwei Liebesgeschichten: der von Adam und Eva und der des Heiligen Geistes und der Kirche. Auf den Seiten der Bibel tritt das Hohelied den Beweis dafür an, dass nur leidenschaftliche Liebe Neues erschaffen kann!


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